DREIUNDDREISSIG
Ich rase in die Küche und brülle: »Hol die Tasche, die an der Tür steht, und bring sie mir!« Ich laufe zum Kühlschrank, um die Saftvorräte herauszunehmen und sie durch meine zu ersetzen, und das muss ich geschafft haben, ehe Damen nach Hause kommt und uns erwischt.
Doch als ich seine überdimensionierte Kühl-Gefrier-Kombination aufmache, ist der Anblick - genau wie in seinem Zimmer oben - ganz anders als erwartet. Es ist nämlich alles voll mit Essen.
Und zwar mit Unmengen von Essen, als würde er eine richtig große Party planen, die sich mindestens über drei Tage hinzieht.
Ich sehe Rinderseiten, Steakfleisch, riesige Käsekeile, ein halbes Huhn, zwei große Pizzas, Ketchup, Mayonnaise, verschiedene Fast-Food-Behälter - was man sich nur denken kann! Ganz zu schweigen von mehreren Sixpacks Bier im untersten Fach.
Und obwohl das alles völlig normal wirkt, ist das Problem Folgendes: Damen ist nicht normal. Er hat im Grunde seit sechshundert Jahren nicht mehr richtig gegessen.
Und er trinkt auch kein Bier.
Unsterblichkeitssaft, Wasser, gelegentlich mal ein Glas Champagner - das schon.
Heineken und Corona - eher nicht.
»Was ist denn?«, fragt Ava, während sie die Tasche zu Boden fallen lässt, über meine Schulter späht und herauszufinden sucht, worüber ich mich so aufrege. Sie macht das Gefrierteil auf, das voll ist mit Wodka, gefrorenen Pizzas und mehreren Packungen Ben&Jerry's-Eiskrem. »Okay, er ist also vor Kurzem einkaufen gewesen ... Gibt es da irgendeinen Grund zur Beunruhigung, der mir entgangen ist? Manifestiert ihr sonst euer ganzes Essen, wenn ihr Hunger habt?«
Ich schüttele den Kopf, da ich ihr nicht sagen kann, dass Damen und ich nie Hunger kriegen. Bloß weil sie weiß, dass wir übersinnliche Kräfte haben und sowohl hier als auch im Sommerland Dinge manifestieren können, muss sie nicht auch noch den anderen Teil der Geschichte kennen, den Teil, in dem es heißt: Ach, und übrigens, habe ich schon erwähnt, dass wir beide unsterblich sind?
Sie weiß nur, was ich ihr gesagt habe - dass ich den starken Verdacht hege, dass Damen vergiftet wird. Was ich ihr allerdings nicht gesagt habe, ist, dass er auf eine Weise vergiftet wird, die alle seine übersinnlichen Fähigkeiten zerstört, seine gesteigerte Körperkraft, seine enorme Intelligenz, seine hoch entwickelten Talente und Fertigkeiten, ja selbst sein Langzeitgedächtnis für alles, was früher geschehen ist - all das wird nach und nach ausgelöscht, während er allmählich wieder zum Sterblichen wird.
Doch während er nach außen wie ein ganz normaler Oberstufenschüler wirkt - nun ja, ein Schüler mit umwerfend gutem Aussehen, massenhaft Geld und einem eigenen elternfreien Haus im Wert von Millionen Dollars -, ist es nur eine Frage der Zeit, bis er zu altern beginnt.
Und dann verfällt.
Und dann - letztlich - stirbt, wie ich es auf diesem Bildschirm gesehen habe.
Und genau deshalb muss ich die Getränke austauschen. Ich muss ihm wieder den guten Saft zuführen, damit er seine Kraft zurückgewinnen und den bereits eingetretenen Schaden rückgängig machen kann. Während ich versuche, ein Gegengift zu finden, das ihn hoffentlich retten und wieder zu dem machen wird, der er einst war.
Und wenn sein unordentliches Haus, der umgestaltete Raum und der gut gefüllte Kühlschrank irgendein Indiz sind, dann geht es mit Damen wesentlich schneller bergab, als ich vermutet habe.
»Ich sehe die Flaschen gar nicht, von denen du gesprochen hast«, sagt Ava, die über meine Schulter in den beleuchteten Kühlschrank späht. »Bist du sicher, dass er sie hier aufbewahrt?«
»Glaub mir, die sind hier.« Ich wühle mich durch die größte Gewürzsammlung der Welt, bis ich das Elixier finde. Dann schlinge ich die Finger um einige Flaschen und reiche sie Ava. »Genau, wie ich es mir gedacht habe.« Ich nicke zufrieden, weil ich endlich vorankomme.
Ava sieht mich mit hochgezogenen Brauen an. »Findest du es nicht sonderbar, dass er es immer noch trinkt? Denn wenn es wirklich vergiftet ist, müsste sich doch eigentlich der Geschmack verändert haben, oder?«
Und auf einmal komme ich ins Zweifeln.
Ich meine, was, wenn ich mich irre?
Was, wenn das alles gar nicht stimmt?
Was, wenn Damen mich einfach satt hatte, wenn alle mich einfach satt hatten und Roman gar nichts damit zu tun hat?
Ich schnappe mir eine Flasche, führe sie an die Lippen und halte erst inne, als Ava losschreit. »Du willst das doch nicht trinken, oder?«
Aber ich zucke nur die Achseln und nehme einen Schluck, da es meiner Meinung nach nur einen Weg gibt, um sicher zu wissen, ob es vergiftet ist, und ich hoffe, dass ein winziger Schluck schon nicht schaden wird. Sowie ich die Flüssigkeit auf der Zunge habe, weiß ich, warum Damen keinen Unterschied bemerkt hat - es gibt nämlich keinen. Zumindest nicht, bis sich der Nachgeschmack bemerkbar macht.
»Wasser!«, keuche ich, laufe zur Spüle und halte den Kopf unter den Hahn, wo ich so viel Wasser schlucke wie möglich, um diesen grauenhaften Geschmack loszuwerden.
»So schlimm?«
Ich nicke und wische mir mit dem Ärmel den Mund. »Noch schlimmer. Aber wenn du je gesehen hättest, wie Damen das Zeug trinkt, wüsstest du, warum er es nicht bemerkt hat. Er schluckt das Gesöff wie ...« Eigentlich wollte ich sagen, wie ein Sterbender, doch das kommt mir der Sache zu nahe. Also hole ich tief Luft und sage: »Wie jemand, der fast am Verdursten ist.«
Ich reiche Ava die restlichen Flaschen, damit sie sie neben der Spüle abstellen und die vergifteten am Rand aufreihen kann, nachdem sie das viele schmutzige Geschirr beiseite geschoben hat, um Platz zu schaffen. Wir arbeiten reibungslos Hand in Hand, und ich habe ihr kaum die letzte Flasche gegeben, als ich mich schon bücke, um die »sicheren« Flaschen aus meiner Tasche zu holen. Ich weiß, dass sie sicher sind, da Damen mich vor ein paar Wochen damit versorgt hat, lange ehe Roman aufgetaucht ist. Ich will sie genau dorthin stellen, wo die anderen untergebracht waren, damit Damen nicht einmal ahnt, dass ich hier war.
»Und was machen wir mit den alten?«, will Ava wissen. »Einfach wegwerfen? Oder heben wir sie als Beweismaterial auf?«
Und gerade als ich aufsehe, um ihr zu antworten, kommt Damen durch die Seitentür herein und sagt: »Was zum Teufel habt ihr in meiner Küche zu suchen?«